Gastbeitrag F.A.Z.: Die Erststimme – Scharnier zwischen Region und Hauptstadt

14. Februar 2019 | Innen und Recht

Wie durch eine Reform des Wahlrechts die Verbindung zum Bürger gestärkt und eine Aufblähung des Bundestages verhindert werden kann.

Die Reform des Wahlrechts ist die vielbeschworene Quadratur des Kreises. Es existieren zu viele Zielkonflikte und Anomalien, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Die derzeitige Fokussierung auf Überhangmandate und entsprechende Lösungsvorschläge geht fehl. Denn weder hat ein Überhang- automatisch ein Ausgleichsmandat zur Folge, noch gibt es einen Automatismus, dass eine Verringerung der Wahlkreise zu weniger Überhangmandaten führt.

Die Frage, die wir uns grundsätzlich stellen müssen, ist: Was ist uns das Direktmandat und somit die Erststimme wert? Es ist falsch, dieses wichtige Element der politischen Partizipation zum politischen Spielball und somit zu Machtfragen zu machen. Die 299 Wahlkreise garantieren nicht nur die Abbildung der regionalen Vielfalt und die Wahrung der spezifischen Interessen. Es besteht auch eine stärkere Verbindung zwischen den dortigen Bürgern und den Wahlkreisabgeordneten, die sich nicht nur alle vier Jahre dem direkten Votum dieser Wähler stellen, sondern in dieser Zeit auch einen deutlich intensiveren Kontakt zu den Akteuren vor Ort pflegen. Durch diese politische Legimitation besteht ferner eine größere Unabhängigkeit gegenüber der Partei. Für die Bundespolitik ist der Wahlkreis das Scharnier zwischen der Region und Berlin und somit das Element, das gegen Politikverdrossenheit und Politikferne am deutlichsten arbeiten kann. Eine Verringerung der Zahl der Wahlkreise würde die Distanz der Bundespolitik zum Bürger nur vergrößern. Ferner muss dem Eindruck entgegengetreten werden, dass Überhangmandate ein Mehr an Direktmandaten darstellen würden. Dem ist nicht so. Egal wie hoch die Zahl von Überhangmandaten ist, es sind stets 299 Direktmandate. Ein Überhang entsteht nur in Bezug auf das Zweitstimmenergebnis einer Partei. Des Weiteren ist es falsch, dass der geschaffene Ausgleichsmechanismus nur in Verbindung mit Überhangmandaten auftritt. Betrachtet man für die Wahl 2017 lediglich die Listenmandate, würde es trotzdem zu Ausgleichsmandaten kommen. Bei der Wahl 2013 war die CSU Auslöser für Ausgleichsmandate, obwohl sie selbst keine Überhangmandate erzielt hat.

Wie kommt dieser Effekt zustande? Ursache hierfür ist das Berechnungsverfahren für die Sitzzuteilung. Während das Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme auf den ersten Blick recht übersichtlich erscheint, verbirgt sich dahinter ein äußerst kompliziertes Sitzzuteilungsverfahren. Mit der Novelle 2013 wurde eine Komponente ergänzt, die die Erfolgswertgleichheit garantieren soll. Dabei geht es um das Verhältnis von Zweitstimmen und festgestellten Mindestsitzen, also, wie viele Zweitstimmen eine Partei erzielen musste, um einen Sitz zu erhalten. Dieser Wert weist jedoch große Unterschiede auf. Die Ursachen hierfür sind vor allem auf Landesebene zu suchen. Unterschiedliche Wahlbeteiligungen und Rundungseffekte können zu unterschiedlichen Ergebnissen zwischen den Ländern und den Parteien führen. Der Ausgleich entsteht nun dadurch, dass ein Verhältnis von Zweitstimmen und Sitz gesucht wird, mit dem für jede Partei mindestens die ihr zustehenden Mindestsitze erzielt werden. Liegt dieser Wert unter dem eigentlich für diese Partei berechneten Verhältnis, erhält diese in der Folge zusätzliche Mandate – die sogenannten Ausgleichsmandate.

An diesem Punkt kann eine mögliche Reform ansetzen, die die Zahl der Wahlkreise und somit die Bedeutung der Erststimme erhält. Im derzeitigen Wahlsystem findet die Erststimme nur zur Feststellung des Wahlkreissiegers Berücksichtigung. Im weiteren Verfahren ist ausschließlich die Zweitstimme von Bedeutung. Dies ist kritisch zu hinterfragen.

Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Parteien mit vielen Direktmandaten in der Regel deutlich mehr Erst- als Zweitstimmen auf sich vereinen. Teilweise beträgt der Unterschied zwei Millionen Stimmen. Im Hinblick auf etwaige Überhangmandate kann durch die erhöhte Zahl von Erststimmen in gewisser Weise von einer Legitimation gesprochen werden. Zweitens missachtet das derzeitige System die Möglichkeiten der Aufteilung von Erst- und Zweitstimme auf unterschiedliche Parteien. Wählt man mit der Erststimme eine „große“ Partei und mit der Zweitstimme eine „kleine“, wird das derzeit nicht entsprechend gewürdigt. Drittens ist die derzeitige Überhöhung des Zweitstimmenproporzes kritisch zu hinterfragen. Die Bedeutung der Zweitstimme möchte ich dabei in keiner Weise anzweifeln. Zu beachten ist jedoch, dass das Wahlsystem grundsätzlich vorsieht, dass lediglich die Hälfte, also 299 Sitze, über die Landeslisten per Zweitstimme vergeben wird. Die Frage ist daher, wie konsistent und gerecht es ist, den Zweitstimmenproporz auf alle 598 Sitze anzuwenden. Zumal jedes Ausgleichsmandat ein weiteres Listenmandat darstellt und somit das hälftige Verhältnis von Direkt- und Listenmandaten zugunsten der Letzteren verschoben wird.

Eine Reform, die den Fokus auf die Größe des Bundestages und somit eine Verringerung der Ausgleichsmandate legt, kann beim Berechnungsverfahren ansetzen und für die Feststellung des zu verwendenden Wertes zusätzlich zum Zweit- auch das Erststimmenverhältnis berücksichtigen. Damit kommt es nicht nur zu einer Würdigung der Erststimme, sondern durch mathematisch „bessere“ Verhältnisse zu einem geringeren Ausgleichsverfahren, womit eine Aufblähung des Bundestages effektiv eingedämmt werden kann.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 14.02.2019.

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