Pflegefälle dürfen nicht zum neuen Karrierekiller werden

16. November 2016 | Demografie

In Bayern sind zurzeit rund 330.000 Menschen pflegebedürftig. Die Zahlen pflegebedürftiger Angehöriger steigen allerdings erheblich an. Bereits Ende 2014 waren in Deutschland rund 2,37 Millionen Menschen laut Bundesfamilienministerium pflegebedürftig. Bis zum Jahr 2030 wird diese Zahl voraussichtlich auf 3,4 Millionen anwachsen. Aus diesem Grund rückt die Frage der Vereinbarkeit von Arbeitsleben und der Pflege von Familienangehörigen immer mehr in den Vordergrund. Auf einer Veranstaltung der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. in München erfolgte eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation. Eine zentrale Botschaft war dabei, dass die Pflege als Thema noch zu stark tabuisiert bzw. als zu unangenehm empfunden wird. Dabei ist Vereinbarkeit inzwischen ein zentrales Kriterium bei der Wahl des Arbeitsplatzes und bei der Fachkräftesicherung. Es ist als neue personalpolitische Herausforderung nicht mehr nur ein Zukunftsthema. Demzufolge ist es nun auch Aufgabe der Politik, das Mindeste hierüber in den Köpfen ein Stück weit zu verändern.

Informations- und Beratungsangebote sind auf diesem Gebiet von entscheidender Bedeutung. Denn die Erfahrungen der anwesenden Unternehmensvertreter zeigten, dass es vor allem auf die schnelle Hilfe im Fall der Fälle ankommt. Die Frage der Erstversorgung und Unterbringung von Angehörigen ist für viele Betroffene das unmittelbare Problem. Daher hat der Freistaat Bayern den „Familienpakt Bayern“ ins Leben gerufen. Diese Vereinbarung zwischen Staatsregierung und Wirtschaftsverbänden soll die Arbeitgeber bei der Umsetzung familienbewusster Maßnahmen unterstützen, u.a. auch in der Pflege. Hier sollen der Auf- und Ausbau von Tagespflege, die Qualifizierung von Pflegelotsen und verschiedene Angebote der Unternehmensberatung vorangetrieben werden. Sicherlich steht diese Problematik jedoch auch im Zusammenhang mit dem Pflegeplatzangebot und der Fachkräftesituation im Allgemeinen. Diese Faktoren müssen stets mitbetrachtet werden, wenn über neue betriebliche Modelle zur Unterstützung der Arbeitnehmer nachgedacht wird.

Ferner wurde durch eine Expertin in der Diskussion herausgestellt, dass eine familienbewusste Personalpolitik durchaus auch einen „payoff“ für die Unternehmen bringt, sich also durch erhöhte Produktivität auszahlt. Studien haben ergeben, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Unternehmen mit familienfreundlichen Leistungen deutlich seltener krank melden und motivierter arbeiten als ihre Kolleginnen und Kollegen in wenig familienbewussten Unternehmen. Umgekehrt können Vereinbarkeitskonflikte von pflegenden Beschäftigten die Unternehmen sogar teuer zu stehen kommen. So „schleppen“ sich viele Beschäftigte trotz Erschöpfung oder Krankheit an den Arbeitsplatz, sind dort aber weniger leistungsfähig als sonst (der sog. Präsentismus). Die Folgekosten, die Unternehmen durch die Phänomene Präsentismus, Absentismus, Berufsaufgabe, Statuswechsel und Krankenstand entstehen, belaufen sich laut einer wissenschaftlichen Expertise zufolge deutschlandweit auf insgesamt knapp 19 Milliarden Euro pro Jahr. Es liegt daher im beiderseitigen Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, dass Pflegeszenarien nicht als Karrierekiller interpretiert werden.

Klar ist: Angebote für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen künftig neben der Kinderbetreuung verstärkt auch Fragen der Angehörigenpflege mit berücksichtigen. Nicht alle Beschäftigten haben Kinder, aber so gut wie alle haben Eltern, die im Alter oftmals auf Unterstützung angewiesen sind. Der Staat kann hier einen Rahmen schaffen, z.B. durch arbeitsrechtliche Regelungen wie Freistellungsmöglichkeiten. Der Bund regelt diese Freistellungsmöglichkeiten in zwei Gesetzen, dem Pflegezeitgesetz und dem Familienpflegezeitgesetz – mehr dazu finden Sie auf der Webseite des BMAS. Jedoch dürfen wir uns auch nichts vormachen. Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse. Die passgenauen Lösungen für den Einzelfall wird der Staat nicht bieten können, denn das Thema muss immer ganz vom Individuum her gedacht werden. Der Ansatz, den Wandel zunächst verstärkt über betriebliche Maßnahmen wie innovative Arbeitszeitmodelle voranzubringen, scheint mir der richtige Weg zu sein.

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